Siehe auch "Wie die Universitäten 'woke' wurden" von Dagmar Henn am 03.11.22 auf https://pressefreiheit.rtde.tech/meinung/153355-wie-universitaten-woke-wurden/

 

 

Wurde die Hochschule zur Flachschule?

 

Die Entwicklung der Studienanfängerquote (in % des jeweiligen Jahrgangs) zeigt die folgende (bearbeitete) Grafik aus dem bpb-Dossier.  Die geburtenstarken Jahrgänge führten Mitte der 70er Jahre zu einer Steigerung der absoluten Zahlen, der prozentuale Anteil der Studienanfänger stieg aber schon vorher wegen der Einführung des BAFöG (1971) durch die sozialliberale Koalition. Die aufkommende Akademikerarbeitslosigkeit führte aber dazu, dass viele gute Schüler lieber eine solide Lehre machten und wer keine Lehrstelle fand wich auf ein Studium aus. Mitte der 80er Jahre machte sich der Pillenknick erhöhend bemerkbar, weil für zahlenmäßig schwächere Jahrgänge freie Studienplätze auch mit schlechtem Notenschnitt erreichbar wurden.

 

Der Rückgang nach 1990 deutet darauf hin, dass in den neuen Ländern zunächst weniger Abiturienten ein Studium begonnen haben. Nach 10 Jahren war der Stand aus 1990 aber wieder erreicht. 2006-12 kam es (nach der PISA-Studie von 2000, die den deutschen Schülern eigenlich nur Mittelmaß bescheinigte) dann in nur 6 Jahren zu einem stärkeren Anstieg als in den 30 Jahren zuvor, der dann (von Julian Nida-Rümelin) als "Akademisierungswahn" bezeichnet wurde. 

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung,

http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/zukunft-bildung/200104/teilhabe-oder-akademisierungswahn?type=galerie&show=image&i=200408

 

Der Anstieg von 2006-12 überfordert die Hochschulen und bricht der traditionellen Berufsausbildung das Genick.

 

 

Akademisierungswahn

 

Der Begriff wurde von dem  ehem. Kulturstaatsminister Nida-Rümelin (SPD) geprägt. Seine Kritik an dieser Fehlsteuerung sagt:
 
Das duale System ist der Kern der beruflichen Bildung in Deutschland. Wer internationale Statistiken lesen kann, weiß, dass dieses System beruflicher Bildung für niedrige Jugendarbeitslosigkeit und eine hohe Produktivität in Handwerk und Technik sorgt. Ab 2006 gab Deutschland zunehmend dem internationalen Druck, ausgeübt vor allem von Seiten der OECD, aber auch der EU, nach und nahm sich die hohen Akademisierungsquoten der USA oder Großbritanniens zum Vorbild. Innerhalb von sechs Jahren schnellte der Prozentsatz der Studienanfänger pro Jahrgang um 60 % nach oben. Die Folge: ein zunehmender Mangel an Nachwuchs in den Ausbildungsberufen. Unterdessen sehen sich manche Branchen durch diesen Nachwuchsmangel in ihrer Existenz bedroht.

Ergänzung des Verfassers: Die Akademisierung wurde mit der Noteninflation praktisch umgesetzt. Deshalb gehört auch dieses Thema auf die Website.

 

Die Eltern wollen das Beste für die Zukunft ihrer Kinder, und das ist eine gute Ausbildung. Wenn die Mehrheit eines Jahrgangs studiert, dann dürfen die eigenen Kinder nicht zurückbleiben. Doch was man von den Hochschulen bekommt entspricht oft nicht diesen Erwartungen, und ist manchmal nur eine halbleere Mogelpackung. Die Noteninflation zeigt, dass sich hinter einem guten Zeugnis eine unterdurchschnittliche Leistung verbergen kann. Und wenn 79 % der Studenten schummeln und 94 % damit Erfolg haben, dann ist das Zeugnis erst recht nicht mehr vertrauenswürdig. Selbst die 6 % aufgedeckte Täuschungsversuche führen nicht zu ernsten Konsequenzen. Man hat die Prüfung nicht bestanden und kann es nächstes Semester nochmal versuchen. Aber selbst wenn man z.B. ein Praktikum mit einem gefälschten Zeugnis nachweisen will und dabei ertappt wird, droht keine Anzeige wegen Urkundenfälschung. Vielmehr riskiert der Prof., der den Betrug meldet und verfolgen will, Schwierigkeiten. Z.B. könnte der Prüfungsausschuss im Zweifel für den Studenten entscheiden (vgl. https://prof-dr-mueller.jimdo.com/praxismodul/die-ehrlichen-sind-die-dummen/), das Praktikum anerkennen und die Dekanin könnte den Professor, der die Fälschung erkannt hat, von seinen Aufgaben entbinden. Der Akademisierungswahn, die Noteninflation, die Schummelkultur der Studenten und die Vertuschungskultur der Hochschulleitungen gehören zusammen. Gemeinsam tragen diese Faktoren dazu bei, dass die Hochschulabsolventen von heute nach dem Studium kaum noch eine adäquate Festanstellung finden. Und es trifft leider auch die Falschen. Aber wie so oft: Die Ehrlichen sind die Dummen!

 

Der Staat gibt jährlich 30 Mrd. € für die Hochschulen aus. Bei 481.588 Hochschulabsolventen in 2015 kostet ein erfolgreiches Studium also durchschnittlich 62.000 €. Wenn aber durch die Noteninflation, Schmusenoten als Gegenleistung für eine gute Evaluation (http://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/einsen-fuer-alle-kuschelnoten-kuhhandel-kumpanei-a-460388.html), mogelnde Studenten (nach einer Studie der Universität Bielefeld schummeln 79 % der Studenten, 94 % kommen damit durch) und die Vertuschungskultur in den Hochschulleitungen das Vertrauen in die Qualität dieser Abschlüsse verloren geht, dann sind diese 62.000 € je Absolvent bzw. 29.900.000.000 € jährlich herausgeworfenes Geld. Das Vertrauen der Arbeitgeber ist schon jetzt nicht mehr sehr groß. Warum bekommen Hochschulabsolventen kaum noch unbefristete Arbeitsverträge, und den ersten befristeten Vertrag auch erst nach mehreren "freiwilligen" Praktika?

 

Auf folgende Beiträge wird verwiesen:

Ex-Kulturstaatsminister Nida-Rümelin ist der Meinung, dass in Deutschland zu viele junge Menschen studieren und zu wenige eine Ausbildung machen  http://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/spd-nida-ruemelin-warnt-vor-akademisierungswahn-in-deutschland-a-919726.html

 
… und der zitierte FAZ-Artikel in voller Länge …
http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/campus/die-folgen-des-akademisierungswahns-14395287.html

 
Unternehmen mit den BA-Absolventen zunehmend unzufrieden
http://www.huffingtonpost.de/julian-nidaruemelin/universitat-hochschule-akademisierung_b_12132918.html 

 

… und mit weiteren Stimmen auf seiner persönlichen Seite
http://www.julian.nida-ruemelin.de/tag/akademisierungswahn/

 
„Die Globalisierung ... bestimmt unser gegenwärtiges Denken und ebnet die kulturellen Besonderheiten ein.“   http://www.berufsreport.com/der-akademisierungswahn-potentialgenaue-ausbildung-statt-bildungspolitischer-gleichmacherei/

Die Welt + N24: Akademisierungswahn wird für Deutschland zum Problem   https://www.welt.de/wirtschaft/karriere/bildung/article154819491/Akademisierungswahn-wird-fuer-Deutschland-zum-Problem.html

Wirtschaftswoche: Ein Plädoyer gegen den Akademisierungswahn   http://www.wiwo.de/politik/deutschland/studium-ein-plaedoyer-gegen-den-akademisierungswahn/13873878.html

Es sei aber gar kein Abstieg, wenn der Vater zum Beispiel einen Master in Philosophie habe und der Sohn Schreinermeister sei und womöglich dreimal so viel verdiene wie der Vater. Vielmehr gehe es darum, das duale Ausbildungssystem wieder attraktiver zu machen.
http://www.deutschlandfunk.de/akademisierungswahn-studium-als-normalfall.724.de.html?dram:article_id=315749

Junge Menschen absolvieren heute Business- oder Management-Studiengänge – und machen dann Jobs, für die ihren Vätern ein Realschulabschluss mit kaufmännischer Lehre reichte.  http://www.karriere.de/studium/schluss-mit-dem-akademisierungswahn-165594/
 
Bundeszentrale für politische Bildung - Dossier   http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/zukunft-bildung/200104/teilhabe-oder-akademisierungswahn?p=all

 

 

 


Hintergrund

  

Schon 2013 schrieb Prof. Dr. Bernd Rüters in der FAZ:

  

"...

 

IX. Das „Bologna-Modell“

   

Es beruht auf einer 1999 von 29 europäischen Bildungsministern im italienischen Bologna unterzeichneten, völkerrechtlich nicht bindenden sogenannten Bologna-Erklärung. Versammelt war ausschließlich die Ministerialbürokratie. Vertreter der nationalen Universitäten waren nicht beteiligt. Ihre Sachkenntnis erschien den Ministern und ihren Apparaten entbehrlich.

   

Die hehren Ziele waren: ein einheitlicher europäischer Hochschulraum; die Förderung von Mobilität, von internationaler Wettbewerbsfähigkeit und von Beschäftigungsfähigkeit, also einer möglichst zügigen, kurzen Studienzeit, die schnelle Verwertbarkeit am Arbeitsmarkt.

   

Die angestrebten Ziele sind im Wesentlichen verfehlt worden. Das Studium wurde nicht verkürzt, sondern geistig verarmt durch nochmalige Reduktion der Grundlagenfächer und die Minderung der Kreativität der Studierenden. Der von dem Modell bewirkte Zeitdruck verengt das Studium auf die geforderten Leistungsnachweise. Es entsteht zusammen mit den ökonomischen Pressionen ein Trend zur Heranbildung von „Fachidioten“, nicht nur, aber besonders im Bologna-Modell. …

    

XI. Absehbare Folgen

   

Das Ausbildungsniveau Deutschlands war einmal ein weltweit beachtetes Modell in vielen Disziplinen. Dann kam eine hirnlose Bürokratie und Gesetzgebung auf die Idee, bewährte Markenzeichen dieses Erfolges - ich nenne etwa die Begriff „Diplomingenieur“ oder „Fakultät“ - ohne Kontakt mit den Hochschulen über Nacht abzuschaffen oder im Kern umzumodeln. Wie aus den „Hauptschulen“ in kurzer Zeit „Nebenschulen“ geworden sind, so besteht die Gefahr, dass aus deutschen Hochschulen „Flachschulen“ und aus den der „Universitas“ verpflichteten Universitäten geistig eng geführte Fachschulen für immer schmaler definierte Berufsgruppen werden könnten.

   

Wenn die Leistungsfähigkeit und das Ansehen des deutschen Bildungswesens wiederhergestellt und erhalten werden sollen, ist eine Besinnung auf die Möglichkeiten unerlässlich. Die Vorstellung, die Hälfte eines Jahrgangs müsse zu einem Hochschulstudium geführt werden, geht weit über unsere Ressourcen hinaus. …."

  

(aus: Bernd Rüthers, Universität in Gefahr - Durch „Flachschulreife“ mehr Gerechtigkeit, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/universitaet-in-gefahr-durch-flachschulreife-mehr-gerechtigkeit-12189273.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2)

  

zu den Jobaussichten von Hochschulabsolventen:


"Die Bildungspolitik, das wird immer deutlicher, steht vor den Trümmern eines einst funktionierenden Systems, das sie selbst kaputtreformiert hat. Das deutsche Bildungssystem ist Musterbeispiel dafür, dass politische Reformen bisweilen nicht Lösungen, sondern Probleme verursachen." (Ferdinand Knauß: Akademisierungswahn gefährdet berufliche Bildung, Wirtschaftswoche 13.04.17, http://www.wiwo.de/politik/deutschland/bildungspolitik-akademisierungswahn-gefaehrdet-berufliche-bildung/19665020.html)